Dienstag, 13. Juni 2017

"Mängelexemplare 2: Dystopia", Hrsg. Constantin Dupien


EIGENTLICH wären heute ja die "Neuen Welten" dran, aber ich bin brav und hab ich zurückgehalten, ergo keine Neuzugänge. Deswegen gibt es glatt noch eine "Alte" hinterher. ^^

Inhalt/Meinung


Bevor ihr zu diesem Buch greift und euch in die Geschichten vertieft, solltet ihr zwei Dinge hinter euch bringen.

Erstens: Verabschiedet euch von der klassischen Definition von „Dystopie“. Dystopie ist mehrfach auslegbar, tausendfach interpretierbar und unendlichmal umsetzbar. Zweitens: Lest das Vorwort!

Ich lese grundsätzlich immer das Vorwort und diesmal hat es sich sogar gelohnt. Danach hab ich mich von der Dystopie-Definition abgewendet und meinen Geist für die tausend (in diesem Fall 19) Möglichkeiten der Umsetzung hingegeben. Den Reiz machte für mich der Haken an den dystopischen Horrorgeschichten (die sich aber nicht an die Dystopie versklaven sollten und auch der Horror musste nicht horrormäßig Gruselig sein):

Keine Zombies! Keine Vampire!

Letzteres ist wohl sehr leicht umzusetzen, wobei die Zombies zurzeit ja einen mega Aufschwung haben. Hört man „Kurzgeschichte, Dystopie, Horror, all in“ denkt man doch sofort an Zombies.

Nicht? Ich schon! Und da ich selbst ein riesen Fan von dystopischen Horrorzombieendzeit-Geschichten bin, war es natürlich nur eine Frage der Zeit, bis ich „Mängelexemplare: Dystopia“ in die Finger bekomme. Apokalypse oder letzte Rettung? Schultern wir den Fluchtrucksack, greifen die Wasserflasche und machen uns auf den gefährlichen Weg!



1. Tim Svart - No. 2/209/197/613

Schwere Kost uns das gleich am Anfang. Hier wird nichts verschönert oder angedeutet. Die Geschichte erzeugt durchweg eine bedrückende Endzeit-Stimmung, der sich niemand entziehen kann. Bei mir kam ganz klar der dystopische Anteil erst nach dem Ende, wie es hier steht. Denn wer weiß schon, was sich bei den Evakuierten entwickelt? Das Ende als solches hat mich überrascht, im Nachhinein betrachtet war es fast klar, dass es darauf hinausläuft, aber ich hab zwischendurch keinen Gedanken daran verschwendet, denn die Atmosphäre hatte mich einfach zu sehr gefangen.



2. Jennifer Jäger - Clara - Wissen ist Macht

Das war für mich die klarste, dystopische Geschichte in dieser Sammlung. Die Autorin arbeitet mit vielen Interpretationsmöglichkeiten, gerade gegen Ende hin ist viel offen. Grauenvoller Gedanke, dass das Wissen Geld als Bezahlung ersetzt. Da schält sich eine klare Rangordnung in der Menschheit heraus. An dieser Stelle hätte ich mir einfach nur vorab und hinten raus etwas mehr gewünscht, die Idee als solche ist fast schon zu erschreckend und wir sollten froh sein, dass die Autorin sie sich nur ausgedacht hat.



3. Uwe Voehl - Kreationen in Samt und Tod

Das hier ständig von „Wir“ gesprochen wird, hat mich einerseits irritiert, andererseits hatte es einen gewissen Reiz. Ich glaube, ich habe die Geschichte ganz anders wahrgenommen, als wenn sie normal in „Er“ oder „Ich“ geschrieben worden wäre. Wahrscheinlich hat aber genau dieser Umstand mir an einigen Stellen den Horror genommen. Ich weiß nicht warum, aber oft hatte ich einen verrückten Kerl vor Augen, der immer von sich in der „Wir“-Form spricht und nervös mit den Augen zwinkert. Alles in allem erinnerte die Geschichte mich an einen sehr blutigen Horrorfilm, der nichtsdestotrotz am Ende irgendwo versteckt noch eine tiefergreifende Aussage hat. Man muss sie nur finden und sich durch verrenkte Gliedmaßen wühlen und den Fliegen aus dem Weg gehen.


4. D. J. Franzen - Der Nomade

Klassische Horrorgeschichte die mich anfangs an den dritten Teil von „Resident Evil“ erinnerte, dann an „Alien“. Hervorragend geschrieben, Horror kam bei mir an. Ich kann gar nicht mehr sagen, ich fand sie klasse! Sehr bildreich lief die Handlung in meinem Kopf von Anfang an rund. Was vielleicht nicht immer von Vorteil war.



5. Jana Oltersdorff - Das Schlafende Schloss

Once there was a really spooky fairy tale ...

Eine der besten Geschichten neben „Die Gartenpforte“, die ich von der Autorin kenne. Ihre kleine Gruselmärchen-Obsession kennen wir ja nun schon, aber diesmal hat sie sich selbst übertroffen! Scheinbar kinderleicht verknüpft sie den Horror mit dem Märchen, altbekanntes mit Neuem und erzeugt so eine ganz eigene Atmosphäre, die die Geschichte durchweg innehat. Eine Horrorgeschichte auf hohem Niveau! Denkt man am Anfang noch, dass eine neue Gruselmärchen-Interpretation kommt, irrt man sich gewaltig!

Zwar erkennt man glasklar, welches Märchen sich hier dem Horror beugen muss, dennoch greift Jana Oltersdorff diesmal ganz tief in die Horrorgrusel-Kiste und überzeugt mit mehr Spannung, mehr Horror und dezentem Ekel. Habgier ersetzt an dieser Stelle einen Großteil des Antriebs der Protagonisten. Es geht nicht, wie in den anderen Geschichten, um das Überleben in der zerstörten Welt. Die beängstigende Horrorwelt ist hier begrenzt/eingegrenzt und wirkt dadurch noch gefährlich, als wenn es die ganze Welt betreffen würde. Wie auch immer Jana das macht, aus harmlosen, liebenswürdigen, Happy-End habenden Märchen, solche Geschichten zu erschaffen, die voll Düsternis und Dunkelheit sind, sie soll damit nicht aufhören!!
… and the old witch still writes her creepy stories …                                             



6. Lisanne Surborg - Rosa Schaum

Das war wohl die ekelhafteste Geschichte, hat mich aber nicht gestört. Für mich war hier der Egoismus der Menschen in einer zerstörten Welt besonders beeindruckend umgesetzt. Jeder ist sich selbst der nächste und doch gibt es den einen, der hilft. Die Geschichte hat mich zum Nachdenken gebracht, nicht jede Horrorgeschichte schafft das. Nicht immer gibt es einen Sinn hinter den Worten, hier war er für mich klar. Hervorragende Geschichte!



7. Andreas Zwengel - Souljacker

Das einzige, was mich an dieser Geschichte gestört hat, war der dezente Fantasy-Anteil. Jaa, jetzt kann man natürlich sagen, wozu gehören denn Geschichten bei denen auf abstruse Art die Welt untergeht? Sagen wir es einfach mal so: Es war eine sehr geile Dystopie-Geschichte, die für mich ihren Reiz verlor, als die Protagonisten mit einem Fingerschnippen die Location wechselten. Ansonsten hat für mich persönlich alles gepasst!



8. Vincent Voss - Wellen

Eine Geschichte, die zu meinen Favoriten gehört! Klassische Weltuntergangsgeschichte, die zuerst auf die unerwünschten Zombies hinweist, dann aber eine ganze andere, wirklich grauenvolle und verdammt realistische Wendung annimmt. Vielleicht sollte ich diese Worte auf Papier schreiben und nicht den PC anwerfen … und nun zwinge ich mich einfach mal, den Gedankengang nicht weiter zu verfolgen.



9. Regina Müller - Larventräume

Dystopie der anderen Art, die vielleicht kurz vor dem „Ausbrechen“ noch gestoppt werden kann. An einigen Stellen war ich etwas verwirrt, allerdings löst sich alles auf und mir blieben keine unangenehmen Fragezeichen im Kopf zurück. Wieder einmal eine Geschichte, die den Horror dezent verpackt hat, sich dafür viel Sinn hinter den Worten versteckt. Als Leser muss man sich nur darauf einlassen, dann regt diese Geschichte zum Nachdenken an! Klasse!



10. Arthur Gordon Wolf - Sahnesperlinge

Ekelhaft! Genial! Verwirrend! Ganz großes Kino! Diese Geschichte reiht sich in meine Favoritenliste ein. Klassischer Horror der verrückten Art, trifft auf die Manipulation durch Video-Games der neuen Zeit. Die Möglichkeiten sind so erschreckend wie gut möglich wie sicherlich schon passiert, nur auf eine andere Art.



11. Michael Dissieux – Dagnin

Wieder eine hervorragende Endzeit-Geschichte, die mich nach dem Lesen bedrückt zurück ließ. Hier kommt tatsächlich die „Was wäre wenn“ Frage auf und ließ mich auch erst einmal innehalten und nachdenken. Man sieht Zombies als tote Fressmaschinen. Aber das waren sie nicht immer. Der Autor hat erstklassig die andere Seite der Medaille beleuchtet!



12. Xander Morus - Der Vollstrecker

Wie … Was … Wer … Himmel noch eins! WAS FÜR EINE GESCHICHTE!! Mein absoluter und mit ganz weitem Abstand zu den anderen stehender Favorit! The Road trifft auf Mad Max trifft auf Book of Eli. Hammergeil! Ich hab am Ende Rotz und Wasser geheult. Ob das so gewollt war, weiß ich nicht, aber als das Fellknäuel zurück rennt, während der Vollstrecker zurückbleibt, da konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Um dieser Geschichte meine volle Begeisterung zu übermitteln, fehlen mir die Worte und das will bei uns was heißen! Solche Geschichten, nein, DIESE Geschichte möchte man gerne vertont und in Farbe auf dem TV sehen! Ganz, ganz großes Kino, Herr Morus!



13. Thomas Backus - Schicksal

Hm. Hier fehlen mir auch die Worte, allerdings nicht weil ich so geflasht bin, wie von dem Vorgänger. Viele Interpretationsmöglichkeiten. Reden wir wirklich von Tieren oder das ist nur eine Metapher?



14. Constantin Dupien - Das Ende

Und wieder ein Kandidat für meine Favoritenliste. Ich kenne eine andere Kurzgeschichte von dem Autor, die mir allerdings gar nicht zusagte. Deswegen war ich etwas verhalten, als ich zu dieser hier kam. Aber alle Bedenken waren umsonst! Hervorragende Endzeit-Geschichte die mich dennoch bedrückt zurück ließ. Ist das wirklich Einbildung am Ende? Klopft niemand? Sind die Laser schlecht oder sind sie das nur, weil es alle sagen? Welche Art von Menschen wir aussortiert? Verschwinden sie wirklich? Ja, das sind eine Menge Fragen, die ich am Ende hatte, aber ich hab nicht das Gefühl, das der Autor diese noch in der Geschichte beantworten muss, denn das muss ich als Leser für mich selbst machen. Constantin Dupien gab mir ein Bild, nun muss ich damit arbeiten.



15. Moe Teratos - Die Schrecken

Herrgott, wo hat denn der Herausgeber diese ganzen genialen Autoren ausgegraben? Grandioses Endzeit-Szenario und nicht mal weit hergeholt! Ich bin begeistert und gehe mit Vorsicht in das Einkaufscenter um die Ecke. Hier wird dem Leser auf eine besonders Eindrucksvolle Art und Weise gezeigt, dass es nur einen einzigen braucht, der aufbegehrt. Im Grunde ist hier auch eine Möglichkeit der Dystopie gegeben.



16. Stefanie Maucher - Ella

Dystopie der klassischen Art und wieder doch nicht. In dieser Geschichte bekommt man, wenn auch kurz, einen Blick auf beide Seiten gewährt. Die, die denken sie machen alles richtig und die, die zeigen, dass es nicht richtig ist, was die Oberen der Stadt machen. Eigentlich sogar drei Seiten, denn es zeigt auch die Manipulation des Einzelnen. Sehr gute Geschichte, die mich von Anfang bis Ende überzeugen konnte.



17. Manfred Schnitzler - Der rote Tod

Was passiert, wenn die Welt vor die Hunde geht und niemand einen Blick auf die kleinen Dörfer wirft? Genau! Alles geht den Bach runter. Ich weiß nicht genau, wie ich das Ende interpretieren soll. Ist es genau so, wie es da steht? Dann finde ich es seltsam. Ist es nur eine Beschreibung, ein Bild dafür, wie ein Wirt besetzt wird? Dann ist genial. Auch nach einigen Tagen grübeln, bin ich mir da nicht so einig drüber, deswegen lasse ich das einfach mal so stehen.



18. Markus K. Korb - Rattenjagd

Und wieder eine Dystopie, die sich sehen lassen kann. Schmutzig, dreckig, in den untersten Schichten wühlend, so mag ich solche Geschichten. Wir bekommen das Umdenken mit, und die klassische Dystopie nimmt ihren Lauf. Nun stellt sich dem Leser nur eine Frage: Was macht der Held mit seinem Wissen? Hervorragend geschrieben und umgesetzt!



19. Torsten Scheib - Göttersturz (Leseprobe zur Mängelexemplare-Novelle)
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich diese Rezension geschrieben habe, ich weiß nur, DAS ICH ENDLICH DAS BUCH LESEN KANN! Hat ja lang genug gedauert, mein Lieber! :-D

Ich hab mir die Leseprobe auch durchgelesen und muss sagen: Hätte ich es mal nicht gemacht! Jetzt muss ich wissen, wie es weiter geht! Was für eine geniale Idee für eine Endzeit/Dystopie/Horror-Was auch immer-Geschichte! Es ist eine Leseprobe, deswegen will ich da gar nicht viel zu sagen, aber ich denke es spricht für sich wenn ich nun mehr als ungeduldig auf den Rest warte!


Fazit


Bei dieser Anthologie muss man sich als Leser keinen Gedanken machen, ob die „Schreibe“ stimmt, ob der Autor Ahnung hat von dem was er da tut und ob die Geschichten überhaupt überzeugen. Der Herausgeber hat hier die Besten der Besten aufgetan und die komplette Sammlung überzeugt mit einem durchweg überdurchschnittlichen Geschichtenniveau! Einige Namen kennt man natürlich und ich habe an dieser Stelle auch sehr hohe Erwartungen gehabt.

Ich wurde nicht enttäuscht und meine Favoritenliste spricht für sich. Dieses Buch gehört in jedes Buchregal, wenn man Dystopie/Endzeit Geschichten zu seinem bevorzugten Lesegenre zählt. Und alle anderen: Herrgott! Lest diese Geschichten! Hammermäßige Endzeit-Ideen paaren sich mit klassischen und unkonventionellen Umsetzungsmethoden!


Bewertung


Was bleibt mir noch zu sagen? „Mängelexemplare: Dystopia“ hat mich emotional, sowie nervlich vollkommen ausgesaugt und als erschütterte, vollends verängstigte „Ich muss mich sofort in meinen Luftschutzbunker mit Nahrungsmitteln für 100 Jahre zurückziehen“-Leserin zurückgelassen. Vielleicht sollte ich aus diesem Grund gar keine Marken vergeben? Allerdings kann ich das diesen genialen, grandiosen und verdammt hervorragenden AutorenInnen nicht antun. Dementsprechend gibt es 5 von 5 Marken. Ganz ohne Schmutz, Dreck oder Blut. Einfach so. Ohne das ihr das System stürzen müsst.



Klappentext:

Mängelexemplare: Dystopia - Neunzehn Autoren blicken in eine Zukunft, in der die Menschheit am Abgrund steht. Schreckensvisionen, die bald Realität werden könnten.

"Das in der allgegenwärtigen Hitze verdunstende Wasser hatte die Luftfeuchtigkeit bis ins Unerträgliche gesteigert. Metall rostete um ein Vielfaches schneller, als sie es aus der alten Welt kannten. Metallhaltiges Gestein nahm eine rostrote Farbe an. Ein optisches Phänomen, das durch das blutrote Licht einer sterbenden Sonne noch weiter verstärkt wurde. Selbst das den Himmel reflektierende Meer wirkte wie eine an den Rändern überkochende Blutsuppe, die im feinen Sand am Fuß des Berges versickerte und eine rötliche Algenschicht zurückließ."











(Das Copyright von zitiertem Text, Bildern und Illustrationen liegt bei den Verlagen, Autoren und/oder den Illustrationen, die im Impressum erwähnt werden. Das Copyright der Rezensionen liegt bei mir. Zitate an anderen Stellen nur mit Erlaubnis von mir.)